Einige Anekdoten aus dem Leben von J. Huth
Joachim Huth (sen.) war nicht nur Pfarrer und Geschichtsforscher, sondern auch Familienvater, Seelsorger, politisch engagierter Mitbürger und manchmal einfach auch nur Mensch. Die nachstehenden Anekdoten sollen mit ein paar Einblicken in andere Bereiche helfen, das Bild des Jubilars abzurunden.
Anregung zur Heimatfeier
1950 versucht J. Huth, den Bürgermeister von Großgrabe, seinem damaligen Wirkungsort als Pfarrer, zur Zusammenarbeit zu bewegen und ein Fest zur 725-Jahrfeier der urkundlichen Ersterwähnung von Großgrabe zu organisieren.
Hochstift Meissen
Das Hochstift Meißen bestätigte nach dem Tode J. Huths den Empfang von 4 Kartons mit Urkunden, die ihm 1965 ausgeliehen worden waren – allerdings war niemandem zwischenzeitlich aufgefallen, dass diese Dokumente seither in Meißen fehlten
.
Empfangsbestätigung Hochstift Meißen
Schwerter zu Pflugscharen
In erster Näherung sollte man annehmen, dass ein Pfarrer eine pazifistische Grundhaltung hat. Aus der Geschichte ist mit der Segnung von Waffen
und der Tätigkeit von Heeresgeistlichen hinreichend anderes bekannt. Über seine Erlebnisse im Krieg hat Vater nur sehr selten gesprochen. Er wurde, nachdem er sich von der Kanzel offen gegen den Krieg geäußert hatte, als Soldat eingezogen und an die Ostfront geschickt. Dort erlitt er während eines Gefechts (wohl zu seinem Glück) einen schweren Gehörschaden und wurde daher nach Hause entlassen.
Als Ende der 60er Jahre die Diskussionen über den kalten Krieg
sowie den heißen Krieg in Vietnam
entbrannten und die Friedensbewegung auch in der DDR unter dem Motto Schwerter zu Pflugscharen
(AT: Micha 4,3) Fuß fasste, gab es hierzu heftige Debatten in der „Jungen Gemeinde“ wie auch in der Familie. Vaters Meinung war dabei hart aber klar: Wenn seine Kinder (Söhne) jemals in einen Krieg ziehen müssten, würde niemand fragen, ob sie das wollen oder den Militärdienst verweigert hätten. Er würde wünschen, dass sich seine Söhne in einer von ihnen nicht zu verantwortenden Situation zumindest verteidigen und ihrer Haut wehren könnten, statt als Schlachtvieh ohne Waffen in einem Strafbataillon an der ersten Front verheizt zu werden. Kriege sind nicht von Gott gewollt, sondern von Menschen gemacht, und „er (Gott) wird ihnen ihr Unrecht vergelten und sie um ihrer Bosheit willen vertilgen“ (Psalm 94, 23).
Gang im Talar vom Pfarrhaus zur Kirche
Das Pfarrhaus in Dürrhennersdorf lag nicht – wie in den meisten Ortschaften – direkt neben der Kirche, sondern einen knappen Kilometer entfernt. Vater zog seinen Talar stets schon zu Hause an und ging in seiner Amtstracht auf der Dorfstraße zur Kirche, oft zur großen Verwunderung der Passanten. Insbesondere während der Sommermonate, wenn ein Betriebsferienlager im Kretscham untergebracht war, hingen die Kinder mit erstaunten Gesichtern aus den Fenstern, weil die meisten so etwas noch nie gesehen hatten.
Befragt nach seiner Motivation hierzu erklärte uns Vater, dass er dies im Dritten Reich von seinem Superintendenten übernommen habe. Es war ein stiller Protest gegen das Regime, das das Christentum mit seiner Friedensbotschaft nicht mochte. Er setzte diese Tradition fort im atheistischen Umfeld der DDR um zu sagen: „Es gibt uns noch. Ihr müsst mit uns rechnen.“
Für eine gute Bildung seiner Kindern
Eine gute Schulbildung ist die Basis für ein gutes Leben. Das hatte auch Vater selbst erlebt: Seine Eltern hatten sich sein Studium regelrecht „vom Munde abgespart“. Diese Chance versuchte er auch seinen Kindern weiterzugeben, auch wenn nicht alle Kinder den Wunsch hatten zu studieren. Einer Mitgliedschaft in den Kinder- und Jugendorganisationen der SED (Pioniere und FDJ) stand er jedoch immer ablehnend gegenüber. Der Zugang zur erweiterten Oberschule (EOS – entspricht heute dem Gymnasium) war jedoch zunehmend erschwert durch die offizielle Bildungspolitik im „Arbeiter- und Bauernstaat“ der DDR. Während der Weg anfangs noch relativ glatt verlief, traten bei den weiteren Kindern zunehmend Probleme auf. Nach ursprünglichen Ablehnungen erhielten vier der acht Kinder die Erlaubnis zum Besuch der EOS erst nach Vaters Einspruch, im ersten Fall nur
bei der Direktorin der Grundschule, beim zweiten beim Kreisschulrat, beim dritten beim Bezirksschulrat und im letzten Falle erst nach Einspruch im Volksbildungsministerium (persönlich bei Frau Margot Honecker) in Berlin. Diese letzte Verhandlung war für ihn persönlich nur mit einem schweren Kompromiss zu lösen: Als Gegenleistung mussten die beiden jüngsten Söhne in die FDJ eintreten, und der jüngste musste für diese vier Jahre in ein Schulinternat, „um dem reaktionären Einfluss der Eltern entzogen zu werden“. Ein fünftes seiner Kinder belegte später das Abitur an der Volkshochschule.
Inkognito
Natürlich nahm Vater gelegentlich auch an Weiterbildungen und Rüstzeiten im innerkirchlichen Bereich teil. Dabei ärgerte es ihn oft, dass sich die Organisatoren aus seiner Sicht ungenügend vorbereiteten, sobald sie anhand der Teilnehmerliste erkannten, dass sie da auch einen Pfarrer im Teilnehmerkreise hätten. Den musste man ja nur ansprechen und in eine Diskussion verwickeln, und schon war das Programm gerettet.
Einmal jedoch gelang es ihm, dieses Rollenspiel zu unterlaufen. Bei der Vorstellungsrunde gab er seinen Beruf zu erkennen mit dem gut sächsisch ausgesprochenen Satz „Ich mache mehrschdendeels Bredchen“. Das hieß für ihn natürlich „Ich mache hauptsächlich Predigten“, wurde aber – wie von ihm beabsichtigt – verstanden als „ich mache hauptsächlich Brötchen“. Er hatte sich damit zum Bäcker gemacht und konnte sich bei den Diskussionen gemütlich zurückhalten, mit vielen Teilnehmern ohne vorgefasste Meinungen oder Zurückhaltungen diskutieren und so eine Weiterbildung von der entspannten Seite genießen. Erst in der Abschiedsrunde löste er das Rätsel auf.
Der Punkt im Schnee
Vater war in Dresden – also in der Stadt aufgewachsen. Seine erste Pfarrstelle in Großgrabe lag in relativ flachem Land. Nach der Versetzung nach Dürrhennersdorf in der Oberlausitz kam daher eine neue Herausforderung auf ihn zu. Er war zugleich Pfarrer im Nachbarort Kottmarsdorf. Moped, Motorrad und Auto standen ihm nicht zur Verfügung und so bewältigte er mehrmals pro Woche die Wege in den Nachbarort über Feldwege zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Im Winter war dies jedoch schwierig, und bei den damals noch üblichen Schneefällen zum Teil mit erheblichen Umwegen entlang der Straßen verbunden. So sah er sich mit 40 genötigt, Ski fahren zu lernen.
Auf der Heimfahrt ging es dann bergab, und unten musste er zielgenau eine Brücke über einen tiefen Bahneinschnitt treffen, um danach steil zum Pfarrhaus abzubiegen. Im Dunkeln und bei meist schlechten Orientierungsmöglichkeiten war ihm da eine zu hohe Geschwindigkeit schon unangenehm – ließ sich aber bei seiner Statur und knapp zwei Metern Körperlänge kaum vermeiden. Mangels anderer Techniken bremste er daher auf seine eigene Art und Weise. Anhand der bei den Bremsmanövern hinterlassenen, punktförmigen Spuren im Schnee konnten wir Kinder uns dann amüsieren, wie oft Vater auf dem Heimweg wieder „gepunktet“ hatte. – Er nahm es mit Humor.
Latein für Anfänger und Fortgeschrittene
Wie die hier (und auch früher) veröffentlichten Quellenforschungen anhand von originalen, in Latein geschriebenen Urkunden belegen, kannte sich J. Huth in dieser Sprache offensichtlich gut aus. Und es gehört schon einiges dazu, dieses Können in alten Handschriften anzuwenden, die Schrift und den Inhalt zu differenzieren, sich wiederholende Formeln und Schreibgewohnheiten herauszufinden und hierbei zwischen „Original“ und Fälschung“ zu unterscheiden. Dies war auch seinen Kindern klar, auch wenn sie manchmal über „Vaters Geschichtsmist“ spöttelten. Aber auch zur Vorbereitung von Predigten oder bei Diskussionen von Bibelzitaten griff er gern auf die lateinischen Urtexte zurück.
In einen völlig anderen Blickwinkel geriet dieses Spezialgebiet allerdings nach dem Besuch seines Studienfreundes Karl. Der war ganz erstaunt über diese Entwicklung und erzählte schmunzelnd, dass es gerade das Fach Latein gewesen sei, das Vater die größten Probleme im Studium bereitete. Als Pflichtfach im Theologiestudium wäre er hieran beinahe gescheitert.
Groß oder Lang ?
Als gesprächiger Mann unterhielt sich Vater natürlich auch gern mit unserem Nachbarn, einem Bauern, der in einem der traditionellen Oberlausitzer Umgebindehäuser wohnte. Während wir als Kinder dort ein und aus gingen und uns auf dem Bauernhof heimisch fühlten, vermied Vater es stets, das Haus zu betreten. Das war aber keineswegs eine Unhöflichkeit: Im Wohnzimmer gab es keine einzige Stelle, an der er mit seinen knapp zwei Metern Körpergröße hätte aufrecht stehen können.
Im Sitzen fiel dies allerdings weniger auf, insbesondere wenn man bei einer Feier auf einem alt-ehrwürdigen Sofa mit kaputten Federn in der Mitte platziert wird, und so kleiner wirkt als die Sitznachbarn, die beide jeweils 20 cm kleiner sind!
Zur Frage der geistigen Größe
fragte ich einmal, ob seine Geschichtsforschungen nicht auch für eine Promotion ausreichend wären. Auch hierüber hatte Vater nachgedacht und sich an verschiedenen Forschungseinrichtungen erkundigt. Probleme bereiteten dabei nicht die fachliche Seite, sondern die in den Promotionsordnungen in der DDR festgelegten weiteren Voraussetzungen: Auf Sprachkurse in zwei Fremdsprachen war man bereit, aus Altersgründen zu verzichten, nicht jedoch auf den Besuch eines dreijährigen Pflichtkurses in Marxismus-Leninismus
. Das war ihm der Titel dann aber doch nicht wert.
Kirche, Konfession und Ökumene
Bei seinen Geschichtsforschungen wurde Vater mehrmals gefragt, warum er als evangelischer Pfarrer sich für Papsturkunden interessiere. Das sei doch katholisch ! Die Antwort war so einfach wie logisch: im Mittelalter gab es diese Spaltung noch nicht, sondern erst nach Luther. In Sachsen aufgewachsen, hielt er es mit der Religion wahrscheinlich ähnlich wie die Sachsenkönige: Sie stellten ihr Volk in dieser Frage frei. Die Könige unterwarfen sich allerdings selbst dem Zwang, katholisch zu sein, um den Anspruch auf die Krone Polens nicht zu verlieren. So kommt es, dass in der Oberlausitz bis heute die traditionell sorbisch geprägten Siedungsgebiete katholisch, die deutschen dagegen überwiegend evangelisch sind.
In Dürrhennersdorf, einem typischen Straßendorf deutscher Siedlungsprägung, gab es in meiner Kindheit nur wenige katholische Familien, und die meisten davon waren erst als Umsiedler nach dem Krieg aus Schlesien, Böhmen und Ungarn gekommen und hier „hängen geblieben“. Der Kaplan der katholischen Gemeinde beklagte, dass er in ca. 20 Ortschaften nur reichlich 100 Familien zu betreuen habe, dabei aber keine einzige Kirche in diesem Gebiet habe. Vater bot ihm an, Gottesdienste in der evangelischen Kirche in Dürrhennersdorf abhalten zu können. Diese ökumenische Geste hatte über lange Jahre Bestand.
Er selbst war streng evangelisch und wollte keinen Papst über sich, tolerierte aber die Denkweise der anderen. Mit der Modernisierung der evangelischen Gottesdienstes tat er sich jedoch schwer und besuchte daher auch gern mal einen katholischen Gottesdienst, um anschließend von deren traditioneller Liturgie zu schwärmen. Er betreute selbst zwei Gemeinden, übernahm wegen der zunehmenden Knappheit an Pfarrern auch oft einen dritten oder gar vierten Gottesdienst in Nachbargemeinden, machte deshalb jahrelang keinen Urlaub und war als Seelsorger in Notsituationen zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit verfügbar (an seinem Pfarramt stand kein Schild mit Öffnungszeiten, wie dies in heutiger Zeit leider üblich ist).
Auch in der Synode war er geradlinig und streng und prangerte Missstände in der lokalen Kirchenverwaltung an. Damit war klar, dass er pünktlich zum 65. Geburtstag in den „Unruhestand“ versetzt wurde. Dennoch war nahezu kein Sonntag dienstfrei und auch in der Woche übernahm er ständig Vertretungen – leider nur außerorts, denn in seiner Wahlheimat Dürrhennersdorf war er in der Kirche und auf der Kanzel unerwünscht. In dieser Form gemeindelos geworden, zahlte er seine Kirchensteuer bis zum Tode direkt an die sächsische Landeskirche und fand seine letzte Ruhestätte nicht auf dem Friedhof seiner Wahlheimat, sondern auf dem Taucherfriedhof in Bautzen.